- Damals: „Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese
weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs …
weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die
Abstraktion von aller Menschlichkeit, … im ausgebildeten Proletariat
praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats
alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer
unmenschlichen Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm
sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein
dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die
nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut
gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur
Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann
und muß das Proletariat sich selbst befreien.“ (Karl Marx, 1844,
„Ökonomisch-philosophische Manuskripte“) Also, die Not treibt die
Menschen zur Empörung. Und heute: - Den Leuten geht es in großer Mehrheit wirtschaftlich relativ gut. Als
Beispiel Zahlen aus FFM: Monatliches Bruttogehalt: 1%<1000€; 8% 1.000
– 2.000€; 18% 2.000 – 3.000€; 20% 3.000 – 4.000€; 15% 4.000-5.000€;
38% >5.0000€. (FAZ Metropol; August/September 2019) - Wenn das Sein das Bewußtsein bestimmt: Was bedeuten diese Zahlen?
Wie wirkmächtig sind die Armutsbeschreibungen, die in vielen
Parteidokumenten vorkommen – auch im Leitantrag zum
Landesparteitag im Oktober? Not und Elend sind nicht mehr das
unabwendbare Klassenschicksal der arbeitenden Bevölkerung. - Es steht die Frage: Was gibt es noch für andere Seins, die das Bewußtsein
bestimmen. Wo sagen die Menschen: Hier muß sich etwas ändern. Denn
das tun sie. 75% sagen auf Befragen es geht nicht gerecht zu. Der
erkennbare Anstieg der psychischen Erkrankungen und der burn out
Syndrome signalisiert: Der Kopf will nicht mehr so weiter machen. Die
Sorge um das Klima wird immer lauter hörbar. In Befragungen sehen die Menschen als großes Problem das Auseinanderfallen der Gesellschaft und zwar nicht zu förderst aus materiellen Gründen. - Aber immer noch liegt die Hegemonie bei denen, die sagen: Der
Kapitalismus ist das Beste was es gibt. - Was also tun: Falsch wäre dies: Wenn „… diese materiellen Elemente
einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandenen
Produktivkräfte, andererseits die Bildung einer revolutionären Masse,
die … gegen die bisherige „Lebensproduktion“ selbst, … , revolutioniert –
nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische
Entwicklung, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal
ausgesprochen ist.“ („Die kommunistischen Ideen … einer gründlichen
Kritik unterwerfen“. Karl Marx) Revolutionspropaganda und genügsames
Skandalisieren kapitalistischer Auswüchse bringen uns nicht zu den
Leuten. - Also machen wir uns daran da anzufangen, wo die Leute unzufrieden
sind. Machen wir dieses System für sie und mit ihnen besser. Das heißt
z.B.: freier, gerechter, menschlicher, gesünder. - Das ist richtig guter Reformismus von dem die Leute etwas hätten, auch
die Prekären, die Urbanen, die Arbeiter. - Grübeln, ob das zum Sozialismus führt, mag tun wer will.
- Was aber wichtig ist: Wenn wir uns als Partei präsentieren, die die
Verhältnisse im Hier und Jetzt besser machen will und nicht erklären was
alles im Kapitalismus nicht geht, bzw. daß das alles nur im Sozialismus so
richtig gut klappt, wenn wir also eine real mögliche Utopie aufzeigen,
dann wird das die Leute interessieren. - Und nun sage niemand, das ginge im Kapitalismus nicht. Ich erinnere an
den 8-Stunden-Tag, die Einführung des bezahlten Urlaubs, das Wahlrecht
für Frauen und alle anderen, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme
bis hin zum individuellen Anspruch auf Unterbringung bei drohender
Obdachlosigkeit. - Was müssen wir tun? Das was Engels schon im Vorwort von 1895 zu den
„Klassenkämpfen in Frankreich …“ schreibt, wenn er die Nutzung des
allgemeine Wahlrecht zur Eroberung u.a. der Parlamente als „neue
Kampfweise des Proletariats“ lobt und feststellt, daß die Bourgeoisie „…
sich mehr zu fürchten (hat) … vor den Erfolgen der Wahl als vor denen
der Rebellion.“ Und festhält „Wir, die Revolutionäre, die Umstürzler, wir
gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den
ungesetzlichen und dem Umsturz.“
- Was heißt das für die Partei? Es gibt keinen größeren Blödsinn, als die
Frage: An welches Milieu wenden wir uns? Wir haben uns an die Mitte
der Gesellschaft zu wenden. - Die will gut regiert werden. Das müssen wir den Leuten, wie die
GenossenInnen bei der Landtagswahl in Bremen, offensiv anbieten. - Diejenigen, die jetzt rufen DIE LINKE müsse bloß radikaler, rebellischer,
konsequenter werden und dann fänden uns die Leute wichtig für sich,
sind die Totengräber der Partei, da sie letztlich nichts anderes fordern
als die Wegwendung von den Bemühungen anschlußfähig zu
werden/bleiben an den Alltagsverstand (*) der Menschen. - Dieser Alltagsverstand will, daß es besser werden soll aber ohne den
großen Kladderadatsch. Wenn wir dem als Ausgangspunkt folgen sind
wir für die Leute nützlich, da wir an einer für sie besseren Gesellschaft
arbeiten und nicht bloße Parolenverbreiter sind. - Also: Auf zu einer LINKEN als Partei des konsequenten Reformismus. „Für
einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz.“ Und dann schauen wir
mal, wohin dieser Weg die Gesellschaft noch führt. Es ist eben ein
schmaler Grat zwischen dem Fatalismus von Doris Day:
“Que Sera, Sera
Whatever will be, will be
The future's not ours, to see
Que Sera, Sera
Que Sera, Sera”
Und dem Kommunistischen Manifest mit seiner praktisch widerlegten
unerschütterlichen Gewißheit:
„Die Kommunisten … haben theoretisch vor der übrigen Masse des
Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen
Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“
Dieter Storck, 02.10.19
(*)“Ferner betonte Gramsci, wer Hegemonie erreichen wolle, müsse das
Terrain des Alltagsverstands sichern. Der Alltagsverstand enthält die
Weltanschauungen der Volksmassen, oftmals nahe an einer Religion, aber
auch versetzt mit «materialistischen Elementen», historisch-politischen
Erfahrungen und Elementen der Volkskultur. Der Alltagsverstand ist somit
keineswegs einheitlich, er ist inkohärent, vielschichtig und von
Widersprüchen durchzogen – wie die widersprüchlichen
Lebensbedingungen der Menschen. Über ein Steuerungszentrum verfügt
der Alltagsverstand nicht, deshalb muss Veränderung auf mehreren Ebenen
in verschiedenen Bereichen ansetzen. Der Alltagsverstand, so Gramsci, sei
die zentrale Arena der Zivilgesellschaft, der widerstandsfähigste
Schützengraben einer bestehenden Gesellschaftsformation .“
(Norbert Nicoll · Gramsci, Hayek und die Nützlichkeit einer hegemonialen
Strategie, Sommer 2012)